Gedanken über den Zauber der „weißen Perlen“
Usedom und Rügen scheinen ähnlich. Auf den ersten Blick. Doch bei genauerer Betrachtung sind sie schon sehr unterschiedlich. Nicht nur, was ihre Geschichte und die Monumente ihrer Besiedlung aus früher Zeit bis in die Jetztzeit betrifft. Unterschiedlich sind sie auch in ihrem Charakter, in ihrer Atmosphäre, in ihrer Ausstrahlung.
Beiden gemeinsam ist: Strand, entspannen, die Augen schließen, die Aufforderung, verträumt den eigenen Gedanken und Bildern zu folgen; die Kinder im weißen, feinkörnigen Sand spielen zu sehen. Den flachen Übergang vom Strand in die Ostsee nutzen, um die Kleinen mit dem Baden im Meer vertraut zu machen; ohne größere Wellen, ohne Ängste. Flanieren auf den Seebrücken. Wanderungen in den Wäldern, um so ein wenig der im Sommer unvermeidlichen Strandenge entfliehen. Abends der Seepromenade entlang den Spaziergang genießen. Viel Zeit haben; die Entschleunigung genießen.
Im Winter laden Usedom und Rügen ein, lange Strandwanderungen zu unternehmen. An nur wenig Menschen vorbei. Wie kleine dunkle Figuren wirken sie, in weiten Abständen verteilt über den endlos langen Strand. In dieser Jahreszeit liegt Ruhe über Usedom und Rügen.
Gewollt oder ungewollt, Urlaub machen ist immer eingebettet in die Gesamtatmosphäre, die aus der Umgebung, aus dem Dort-Sein emporsteigt. Auf Usedom und Rügen prägt die Bäderarchitektur, primär aus der zweiten Hälfte des 19. und vom Beginn des 20. Jahrhunderts stammend; es sind die weißen Villen. Sie verdichten ihren Charme zu dem Begriff dieser Bäder als „weiße Perlen“. Sie explodieren geradezu im prallen Sonnenschein, werden auch zu leuchtenden inneren Bildern. Es sind die ehemaligen Villen, die Industrielle, Kaufleute, vermögende Leute unterschiedlichster Provenienz vor allem aus dem Berlin und dessen Großraum in dieser Zeit errichteten. Teils als pompöse Symbole ihres Reichtums. Errichtet auch in der Konkurrenz zu den Nachbarbauten. Vor allem sind sie der Ausdruck der je eigenen Wunsch- und Fantasiebilder der Bauherren. Zwar sind sie beeinflusst von der italienischen Villenarchitektur; dennoch folgen sie keinem einheitlichen Stil. Sie bieten ihre je individuellen Strukturen an. Aufgereiht wie Perlen entlang der Promenade und den Straßen. Was sie vereint, was sozusagen von Gebäude zu Gebäude überspringt, sind die weißen Holzbalkone und veranden. Es ist der Ausdruck von Lust auf die feine Verzierung. Auch wenn diese letztlich einer überschaubaren Variation der Muster folgt, schafft sie eine unerhörte Vielfalt. Optische Langeweile ist weit fern. Bereichert das Gefühl der Gäste, richtig zu sein an diesem Ort.
Selbst, wenn der Himmel grau ist und auf den Fassaden der Villen Licht- und Schattenwürfe einander angleicht, geht von dem Weiß der Fassaden, Veranden und Balkone ein freundlicher Wink aus. Ein Wink auf das Strahlen, das mit dem Blau der Himmels und seinen unentwegt wandernden Wolken zurückkommen wird. Und dieses Strahlen setzt sich fort in den Kurhäusern, Seebrücken und Musikpavillons.
Der überall zu findende Usedomer Verweis auf die dortigen drei „Kaiserbäder“ erinnert an die feudale Kaiserzeit. Ein wenig mit kolonial glorifizierendem Touch. Auch wenn dieser vergessen macht, dass diese Zeit für die große Mehrheit der Menschen nie eine „gute Zeit“ war, dass sie in dem ersten großen Krieg, dem 1. Weltkrieg mit seinen industrialisierten Massenvernichtungsschlachten, endete und sich selbst zugrunde richtete.
Feudal ist die Bäderarchitektur nicht aufgelegt; sie ist großbürgerlich. Die unübersehbare Mixtur ganz unterschiedlicher Stile ist auch Ausdruck der Folgen, die sich aus der massiven Industrialisierung Preußens und der Neuverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer in abermals nur wenige, nun allerdings andere Hände ergab. Die Entstilisierung der Bäderarchitektur auf Rügen und Usedom ist auch Ausdruck privilegierter Individualisierung für wenige.
Bleibt noch daran zu erinnern, dass in der DDR das weiße Leuchten auf den Fassaden, Balkonen und Veranden dem blätternden Grau wich; dem Glanz folgte die Tristesse. Der Glanz kehrte zurück erst mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Diesmal als Attraktion für viele. Als Kommerz auch, um die Badegäste zu locken. Geblieben ist in Rügen Prora; es ist die architektonische Unterwerfung des Individuellen unter das Regime des verordneten Gleichschritts. In den letzten Jahren Schritt für Schritt umentwickelt in kostenintensive Ferienwohnungen. Mit dem Versprechen, im unendlich langen Koloss des Gleichen der eigenen Individualität frönen zu können. In Usedom mahnt die Heeresversuchsanstalt Peenemünde an den Wahn, mittels von „Wunderwaffen“ einen grausamen Vernichtungs- und Plünderungskrieg letztlich doch zugunsten der Mörder und Plünderer entscheiden zu können. Glücklicherweise war dies nur ein Wahn.
Kaum eine Landschaft bleibt unberührt von den Untaten, die Menschen an Menschen zu tun gewillt waren und auch weiterhin sind, Macht, Ressourcen jeglicher Art zu erplündern. Gleichwohl sei es erlaubt, sich dem Charme von Usedom und Rügen zu ergeben, sie als Perlen des Hier und Jetzt ins Herz zu schließen. Als landschaftliche Schönheiten auch. Sie betten die Bäderarchitektur von Usedom und Rügen in das faszinierende Großgemälde dieser beiden Regionen ein.
Jürgen van Buer im Dezember 2020