Wenn der Name „Lost Place“ ins Gespräch gebracht wird, schnellt die Aufmerksamkeit der meisten Personen steil nach oben. Dabei ist der Begriff des Lost Place höchst unscharf. Vielleicht macht genau dies ja seine Magie, seine Attraktion aus. Der Blick in das Internet offenbart eine riesige Bandbreite von Definitionsversuchen und so-ungefähr-Beschreibungen. Nach wie vor hoch wirksam scheint das Versprechen zu sein, auf die eigene Entdeckungsreise zu gehen, sei sie nun eine fotografische oder nur eine mit ein wenig der Gruselhaut, etwas vielleicht Verbotenes zu tun. 

Von den im Folgenden präsentierten vier ‚Lost Places‘ wird nur das Olympische Dorf 1936 gemeinhin als ein solcher betitelt. Die andern drei sind der Gerlach-Erweiterungsbau zum Tieranatomischen Theater auf dem Campus Nord der Humboldt-Universität, das dortige Tierpflegerheim sowie das Gebäude in der Berliner Auguststraße 14 und 15 gleich hinter der ehemaligen jüdischen Mädchenschule; zu diesen war der Zugang entweder verschlossen, oder im Verständnis der Eigentümer war das jeweilige Gebäude gar kein „Lost Place“. Es ‚erholte‘ sich sozusagen von seiner Geschichte per Dauerschlaf – und wartete auf seine Wiederbelegung in moderner Funktionalität. Im Olympischen Dorf von 1936 hat das Speisehaus der Nationen inzwischen eine gewinnträchtige Wiederbelebung als Mehrfamilienhaus für – wie auch immer – Arrivierte gefunden; geblieben ist die Hülle des ursprünglichen Baus, die gewollte Assoziation an die ursprüngliche äußere Erscheinung.

Der vor allem in der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts sanierte Bau in der Auguststraße 14/15 (der Vorderbau in der Auguststraße 16 wurde schon eher saniert) kann auf eine äußerst wechselvolle Geschichte zurückblicken; in vielen Aspekten steht er geradezu für die jüngere Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Berlin: Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war das Jüdische Krankenhaus in dem 1851-1861 erbauten Gebäude untergebracht. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts diente es zunächst als Heimstatt für eingewanderte osteuropäische Juden und ab 1922 bis zum Holocaust in den 1930 Jahren als jüdisches Kinderheim Beit Ahawah. Nach der Beendigung des 2. Weltkrieges wurden nur einige Gebäude in der Auguststraße wieder restauriert bzw. saniert. Nach dem Mauerfall 1989 okkupierten Hausbesetzer das hintere Gebäude (Auguststr. 14) und hinterließen ihren Alltagsmüll zur Entsorgung durch wen auch immer. (Ein Denkmal wird dem Kinderheim Beit Ahawah (Haus der Liebe) durch den von Ayelet Bargur gedrehten Dokumentarfilm von 2007 gesetzt. 

(vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Kinderheim_in_der_Auguststraße). 

Genau in diesem Transitzustand zwischen Hinterlassenschaften und Beginn der Sanierungen konnte ich in den Klinkerbauten 14 und 15 hinter dem Vorderbau Auguststraße 16 im Mai 2011 für einige Male fotografieren. Der Müll des Alltags vor allem der Hausbesetzer prägte die Flure und Zimmer noch auf eine je eigene Weise. So ergab sich eine ganz eigenartige Farbigkeit im Gebäude selbst – geschuldet dem abblätternden Putz, dem Widerhall der Zeit auf dem zerschrammten und vernarbten Fußboden.

Speisehaus der Nationen im Olympischen Dorf 1936

In seinem Buch von 2009 vermerkt Christian Schwan, S. 7, die Eingabe „lost places“ in elektronische Suchmaschinen führe sehr direkt auf das Olympische Dorf 1936 im Elstal 

(Beitrag in Margit Kühl, Wolfgang Schäche, Christian Schwan & Hans Joachim Teichler (2009).Vergessener Ort – Olympisches Dorf 1936. DKB Stiftung für gesellschaftliches Engagement. Hrg.; STRAUSS Edition im Keyser Verlag, Berlin 2009). 

Olympisches Dorf 1936. Ein vergessener Ort? Nicht ganz. Denn verschwunden sind die XI. Olympischen Spiele selbst nie aus dem Gedächtnis der Deutschen. Im Gegenteil – sie sind dort in einer merk- und vor allem diskussionswürdigen Erinnerungsposition verblieben: Es seien gute Spiele gewesen, so die Athlet*innen, so auch die Generation meiner Eltern. Auf diesem Erinnerungstableau quasi aufgemalt wird der Geist von Olympia, der während der Spiele in Berlin 1936 auf so besondere Weise zu spüren gewesen sei: Berlin sei „wie ein Rausch“ gewesen, so der deutsche Silbermedaillengewinner im Hammerwerfen, Erwin Blask (DKB Stiftung für gesellschaftliches Engagement: Autogrammbücher Berlin 1936, Schloss & Gut Liebenberg 2011, S. 10). Die Olympiade sei „der Höhepunkt aller Olympiaden“ gewesen, so Helene Meyer, 1928 Olympiasiegerin im Florett, 1936 Gewinnerin der Silbermedaille (S. 10); doch gerade sie macht das „Spannungsverhältnis zwischen Erinnerung und Geschichte“ deutlich (H.-J. Teichler, S. 10) : Denn als „Halbjüdin“ wurde sie Opfer der Nürnberger Rassegesetze. 

Der 28. Dezember 2011, der Tag, an dem die Mehrheit meiner Fotos entstand, war ein irgendwie besonderer Tag: Milchig blauer Himmel, wundervoll weiches Licht, warme Schatten und sanfte Leuchtflächen. Ruhe. Tiefe Ruhe; denn es war kein weiterer Besucher da. Die Zeit schien rückwärts zu laufen, so als wäre dies trotz besseren Wissens möglich. Ab 2018 wird dort das „G.O.L.D. Gartenstadt Olympisches Dorf von 1936“ umgesetzt. Eine Gartenstadt. Das ehemalige Speisehaus der Nationen wurde denkmalsgeschützt bereits in ein Mehrfamilienhaus umgebaut. 

Tierpflegerhaus auf dem Campus Nord der Humboldt-Universität

Mitten in Berlin hat sich ein ca. 80.000 qm großes parkähnlich gestaltetes Gelände erhalten. Es ist der Campus Nord der Humboldt-Universität zu Berlin. Vormals waren es die Reußschen Gärten, vor den Toren Berlins – bevor Kurfürst Friedrich Wilhelm dies Gelände erwarb und der neu gegründeten Tierarzneischule übergab. Das Paradestück auf diesem immer noch ein wenig verschlafen wirkenden, mit alten Bäumen parkähnlich durchwachsenen Gelände ist das Tieranatonmische Theater. Diesem gegenüber steht das Tierpflegerheim, getrennt durch einen kleinen Seitengraben der Panke. Es ist ein Klinkerbau aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die hier vorgestellten Fotos stammen aus dem Jahr 2018, nach dem Auszug der letzten Tierpflegerin und nach längeren Leerstand des Gebäudes;, nachdem die Veterinärmedizin der Humboldt-Universität bald nach der Wende an die Freie Universität Berlin verlagert worden war. Mit dem Leerstand entstand für das Gebäude eine Art Transitpassage. Studierende machten sich Mitte der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts das Gebäude zu eigen und bereicherten vor allem die Flure und Treppen mit ihren Graffiti.  

Der Gerlachbau auf dem Campus Nord der Humboldt-Universität zu Berlin

Da steht er nun, der Gerlachbau, frisch grundsaniert. In der hellen Sonne strahlt er wie ein Juwel. In welch armseligen Zustand er sich in Zeit bis zum Beginn der Restaurierungsarbeiten um die Mitte der letzten Dekade befand, ist kaum noch zu ermessen. Der Gerlachbau. 1873 errichtet als erster Erweiterungsbau zum Tieranatomischen Theater. Gedacht und genutzt wurde der Gerlachbau für die Vorbereitung der zur veterinär-medizinische Lehre zu verwendenden Tierkörpern. 1935/36 erfolgte dann die zweite Erweiterung.

Der Gerlachbau. Im Jahr 2012 stand ich das erste Mal vor seiner langsam, lautlos vor sich hinblätternden Fassade und überlegte, wie dieser Bau wohl in seinem Innern aussehen möge. Im März 2013 und dann 10 Mal folgend konnte ich in dem Bau fotografieren. Mit der Wiedereröffnung im Jahr 2019, dann übergeben an das Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, schloss ich diese fotografische Entdeckungsreise ab. 

Lost Places Berlin