Über Berlin schreiben zu wollen, gleicht grandiosem Übermut. Haben doch so Viele diese Stadt beschrieben, besungen, bewitzelt, sorgfältig analysiert auch – und sind doch nicht übereingekommen. Die Reisenden strömen durch die Stadt. Tag für Tag. Verdichten die Mitte Berlins zu einem Ameisenhaufen. Ist das Berlin? Wohl kaum. Aber ein wenig schon. Lebt diese Stadt doch von den Einnahmen aus den Portemonnaies dieser Reisenden. Und sie benötigt dieses Geld dringendst.
Denn zu den reichen Bundesländern gehört Berlin definitiv nicht. Dafür aber zu denjenigen, in denen sich die ungelösten Probleme nicht nur dieser Stadt, sondern Deutschlands wie unter einem Brennglas verdichten. Das Armutsrisiko eines großen Teils der Menschen. Vor allem auch von Kindern. Die ökonomische Umstrukturierung der Stadt mit dem Wegfall der Subventionen für den westlichen Teil der geteilten Stadt Mitte der 1990er Jahre ist noch nicht überwunden. Wegbrechen der industriellen Arbeitsplätze. Erhöhte Arbeitslosigkeit. Bildungsarmut. Schule nur noch als marginale Größe in der Lebenskonstruktion vieler jungen Menschen?
Berlin. Bei allen Beschwernissen steht diese Stadt für ihre Träume auch. Für ihren Übermut. Für ihre Überschätzung auch. Man/frau könnte noch so vieles anfügen. Das Kaleidoskop der Facetten scheint unendlich. Jedermann/jedefrau mag hinzufügen, was ihm/ihr in den Sinn kommt, wenn der Name der Stadt fällt. Vieles Bemerkenswertes, vieles Nebensächliches ebenso. Erfolge und Misserfolge. Der BER als Alptraum grandioser Selbstüberschätzung? Als Hochmut auch? Nicht zuletzt politischen und administrativen Versagens auch? Das Humboldt Forum sollte eigentlich im Jahr 2019 fertiggestellt sein, pünktlich zum 150. Todestag von Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von Humboldt. Und wird es nicht. Verzögerte Beschaffung der neuen S-Bahn-Wagen. Ausschreibungsfehler? Diese Botschaft steht zumindest im Raum. Sind Verspätungen ein Charakteristikum dieser Stadt?
Bei allen Problemen, Berlin ist auch die Stadt der vielen kleinen und großen Erfolge. Eine Stadt mit vier staatlichen Universitäten und vielen staatlichen und privaten Hochschulen. Mit Forschungseinrichtungen. Mit einer kaum überschaubaren Zahl von Start-up-Unternehmen. Mit dem Mut und dem Blick nach vorn so vieler Berliner und Neulinge in dieser Stadt.
Berlin. Seine Farben sind wie ein Spiegel all dieser beschriebenen, besungenen, kolportierten, bewitzelten Facetten. Grell. Manchmal auch sanft. Wie ein Aquarell. Irgendwie schräg. Eigentlich ganz schön oder unschön schräg. Und doch – all diese Farben fügen sich zu einer Einheit zusammen trotz oder besser gerade ob ihrer Widersprüche. Das Tableau Berlin bildet eine Einheit, die Widerspruch, Ausgewogenheit, Melancholie und lautes Schreien sich auffängt. So, als gehöre all dieses untrennbar zusammen. Es ist Berlin eben.
Die Fotografien fangen die Farben und ihre Schattierungen ein – ab Mitte der 1990er Jahre. Viele sind wie ein nostalgischer Hauch. Im Zusammenspiel mit den Berliner Fotografien aus den letzten Jahren, vor allem der farbigen Bilder zum Reichstag, gewinnen sie ihren ganz eigenen Ausdruck. Und sie spiegeln auch fotografische Entwicklung. Des Autors allemal.
Jürgen van Buer