Dörfliche Lebens- und Glaubensräume in Ostungarn? Nur wo ist dies Ostungarn?

Man könnte es über die Komitát-Struktur Ungarns beschreiben. Dann würde Ostungarn ungefähr durch die Komitáte Borsod-Abaúj-Zemplén, Hajdú-Bihar und Szabolcs-Szatmár-Bereg umfasst. Nur bleibt diese Information für die meisten Leser*innen eher abstrakt, verwaltungstechnisch-nüchtern. So, als wolle man ein Glas mit Tokaji Aszúescenzia (Tokajer Ausbruch-Essenz) durch lauwarmes Mineralwasser ersetzen.

Kömörö

Ein neuer Versuch also: Wo ist dies Ostungarn? Drei Stunden mit der Bahn von Budapest gen Osten. Richtung Debrecen und Nyíregyháza. Oder – ein wenig schneller – über die Autobahn in dieselbe Richtung. Bis dahin, wo sie im Nirgendwo endet. Spätestens jetzt ist Ostungarn erreicht. – Das alles klingt ein wenig ironisch. Mit der eingefärbten Brille eines Menschen, der in einem urbanen Zentrum in Deutschland lebt. Ist es vielleicht auch. Aber mit liebevollem Unterton – . Vielleicht liegt Ostungarn vor den sanften Hügeln von Tokaj, zum ersten Mal Mitte es 14. Jahrhunderts erwähnt. Dort, wo die Süßweine Tokaj Aszú und Tokaj Eszencia hergestellt werden. Weine, deren Vorgänger im 18. Jahrhundert als „König der Weine und Wein der Könige“ gerühmt wurden.

Die Gegend hier liegt an der Grenze zur Slowakei, zur Ukraine und zu Rumänien. Durchflossen von dem ehemaligen Grenzfluss Theiß (ungarisch: Tisa), die einmal einer der fischreichsten Flüsse Europas war. Breit zieht das Wasser entlang der Ufer. Die Wälder reichen bis ganz hinab beinah bis in den Fluss hinein. Die Zeit scheint zu stehen. Sich selbst vergessen zu haben. Beinah. In die Betrachtung dieser Bilder kehrt Ruhe ein. In die Seele auch.

Csengersima

Nicht so in den größeren Städten wie Debrecen oder Nyíregyháza. Jedoch in den Dörfern. Sie sind ei­gene Lebensräume. Eigene Räume des Fühlens auch: Lange Häuserreihen. Die Schmalseite zur Straße. Ein wenig versteckt hinter den Zäunen und den kleine Vorgärten. Ja, hier wohnt jemand, künden die üppig bepflanzten Blumenkästen. Die Gardinen hinter den Fensterscheiben sind die Arbeit der Frauen. Manchmal, wenn es angenehm warm ist und kein Wind geht, sitzen sie – nun vor allem die alten Frauen – zusammen und häkeln und sticken. An einer Straßenkreuzung. Mitten im Dorf. So, als warteten sie auf die Rückkehr ihrer Kinder, die schon lange in die Städte gezogen sind. Dorthin, wo es Arbeit gibt. An den Wochenenden kehren sie zurück. Manchmal.

Karcsa

Lebensräume hier sind auch Glaubensräume. In Gestalt der Dorfkirchen. Viele sind Kleinodien. Über die gesamte Landschaft hinweg verbunden wie in einem Perlengeflecht. Holzschindeln auf den Dächern. Mit dem gebrochenen Schimmer zwischen tiefem Schwarz und hellen Braun. Mit den hölzernen Glockentürmen, meist abseits des Kirchenbaus. Innen die mit großen Ornamenten bemalten Holz­decken und Emporen. Nicht von der Finesse der kirchlichen Großbauten der Stadt. Aber un­mit­telbar begreifbar. Erfühlbar. Manchmal bergen die gekalkten Innenwände Älteres. Aus der Zeit, bevor die Reformation kam und in der auch die aus Wien geschickten Gegen-Prediger nicht sonderlich erfolgreich waren. Es sind die immer frischen Blumen, die den kleinen Kirchenräumen ihren ganz besonderen Duft verleihen. Es sind die bestickten Decken und Deckchen, die dem Dunkel der Gebetsbänke einen Schimmer von Leichtigkeit einhauchen. Bis die Schwere des Holzes seine Kraft zu­rück­erobert.

Szatmárcseke

Wo ist Ostungarn? Was sind seine Lebens- und Glaubensräume? Für mich, den Fotografen, ist es dort, wo man nicht so mal eben vorbeikommt. Dort, wo die hohen Pfosten mit den durchhängenden Elek­trokabeln die Dorfstraßen säumen und sich als eine lange Reihung von Storchennestern vorstellen. Dort, wo die Zeit immer auch unsere Gegenzeit ist. Wo die Blicke von den Hügeln von Tokaj gen Osten in die Unendlichkeit des ukrainischen Nirgendwo führen. Dort, wo die Freunde, die hier leben, Gastfreundschaft zu einem tiefen Erlebnis machen. Dort, wo die Spuren der Zeit sich verlieren zu scheinen. Und wo die aufgeregten Städte so weit entfernt erscheinen.

Die genauere Beschreibung der Dorfkirchen ist im Internet in deutscher oder englischer Sprache nicht immer besonders ausführlich. Hier helfen aber Reiseführer weiter. Daher wird an dieser Stelle darauf verzichtet, in im Folgenden fotografierten Kirchen – Glaubensräume – ausführlich zu beschreiben.

in Csenger
Dörfliche Lebens- und Glaubensräume in Ostungarn