Die Ursprünge der Càrmenes de Granada mögen weit zurückreichen, z. B. in die mittelalterliche Zeit der Mauren, oder auch noch weiter zurück. So, wie sie uns begegnen, stammen die meisten von ihnen aus dem 19. oder vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Mehrheitlich im Albaycín oder auch im Realejo-San Matías in Hanglage angelegt, stellen sie kein homogenes Ensemble dar, das sich leicht beschreiben ließe. Ganz im Gegenteil: Ihre Vielfalt geht in die Hunderte – von ganz klein bis sehr groß, sorgfältigst gepflegt bis verwildert, teils herausgeputzt bis beinah verkommen. Aber immer mit einem Brunnen – und mit hohen Mauern bestens gegen unvorsichtige Blicke von außen abgeschirmt. Selbst Blicke in den Garten werden inzwischen verhindert, warfen doch die Vorbeieilenden ihren Müll nur allzu häufig durch die Gitter des Eingangstores.
Schon der Begriff des „carmen“ ist schwer zu übersetzen, wecken Übersetzungen ins Deutsche als „Stadthaus“ oder „Stadtvilla“ doch Assoziationen, die die Mehrheit dieser Häuser schwerlich erfüllen kann und auch soll. Es sei denn, die Häuser seien speziell für den Tourismus zu Appartmentkohorten oder zu Hotels quasi aufgerüstet worden. Càrmenes de Granada. Was bleibt? Es bleibt das Spiel mit unseren Assoziationen, mit unseren Bildern über die Erzählungen von 2001 Nacht und über die Erzählerin selbst, Scheherazade.
Wer mehr über zwei dieser Càrmenes wissen möchte, kann sich in die Texte zum Carmen de la Victoria und zum Carmen Blanco (de la Fundación Rodriguez-Acosta) versenken, die im Anschluss an die Bilder unten zu finden sind.


Carmen de la Victoria

Man kann versuchen, dieses Ensemble von Gebäude, Terrassen und Gärten, nüchtern zu betrachten und dann auch so zu beschreiben. Dann liest sich dies etwa wie folgt:
Die Geschichte des Carmen de la Victoria reicht weit zurück: 1574 kaufte Pater Antúnez das Terrain, das bereits zu arabischer Zeit bebaut war, und erbaute dort ein Konvent. Seine heutige Struktur erhielt der Carmen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als dieses Konvent abgerissen und der ehemalige Carmen de la Victoria-Huerto del Olivarillo und der Carmen del Pencal zusammengelegt wurden. 1945 wurde er von der Universität Granada erworben. Zunächst diente er als studentische Unterkunft, dann bis heute als Residenz für die Gäste der Universität.

Die Gärten sind für alle BesucherInnen Granadas geöffnet. Sie vermitteln nach wie vor den Charakter eines Carmen, wie er zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Albaycín vielfach zu finden war. Carmen de la Victoria. Man kann allerdings auch erst gar nicht auf den Gedanken kommen, ihn auf solch nüchterne Weise zu beschreiben. Denn bereits nach den ersten Schritten durch das Tor, das nach dem Klingeln und dem Surren des Öffners erst mühsam aufgedrückt werden muss, treten man oder frau in eine andere, verwunschene, betörend anmutende Welt ein. Das Licht scheint hier ein anderes zu sein. Transparenter. Gleichwohl dunkler auch. Und ebenso gleißender dort, wo die Sonnen Flecken auf Mauern, Gänge oder Pflanzen malt. Die Luft ist durchwebt von Düften. Sie scheint zu schwingen. Es blüht an allen Orten, wenn man oder frau sich im April oder Mai auf die Wanderung durch den Carmen de la Victoria machen. Stufen führen auf die erste Ebene. Der lange Brunnen mit seinen Wasserlilien und Goldfischen liegt im Dunkeln. So als sei er das Gegenstück zu den lichtdurchfluteten Gärten. Eine alte Laterne kommt ins Blickfeld. Es scheint, als hinge sie schon Jahrzehnte dort. Vielleicht auch schon länger. Es ist, als sei sie einfach vergessen worden. Von den Menschen. Von der Zeit. Büsche. Teils sind ihre Stämme hochgezogen, ineinander verzwirbelt zu Dächern über den Gängen. Die Holzstrukturen sind wie dunkle, beinah schwarze Kunstwerke gegen das Blau des Himmels. Zeichen der Symbiose von Natur und Kultur. Kleine runde Tische und Stühle stehen auf der ersten Terrasse. Laden ein zum Blick auf die gegenüberliegende Seite des Tales. Auf den Generalife. Sein Weiß glänzt herüber. Scheint zu erzählen von den Geschichten und Legenden, die Washington Irving vor nun schon beinah zweihundert Jahren aufgeschrieben und dann 1832 veröffentlichte. Die weiteren Gärten des Carmen locken, gleich weiterzugehen. Doch Verweilen führt bereits hier vom Sehen hinein in behutsames Schauen.

Die Blicke wandern über alte Mauerstrukturen, die die obere Terrasse stützen. Sie erinnern an die Zeit des arabischen Albaycín, bevor die Reconquista 1492 mit der Einnahme der Alhambra ihren Abschluss fand. Das Tal öffnet sich dem Auge. Richtet seine Aufmerksamkeit auf die Alhambra. Stolz grüßt sie von dem roten Felsen. Es ist, als sei sie schon immer dort gewesen. In genau diesem Rhythmus von Türmen, Galerien, Fenstern. Mit der Andeutung der Gärten hinter ihren Festungsmauern. Manchmal blitzt es von einer Galerie kurz auf. Dann war es wohl einer der vielen hilflosen Versuche einer Kamera, dem Albaycín, der sich von dort aus betrachtet in all seiner Vielfalt von weißen Häusern und Carmen mit ihren Gärten präsentiert, einen besonderen Glanz zu verleihen. Als ob er dies benötige. Welch Wahn.

Die obere Terrasse des Carmen de la Victoria öffnet die Perspektiven auf die Residenz selbst. Sie gibt sich schmucklos beinah. Ihr Charme liegt in dem Kontrast zwischen dem glatten, im Sonnenlicht strukturlos erscheinenden Weiß des Gebäudes und dem Spiel des alten Baumbestands, den Zierbüsche, kleine Beete umrahmen. Das zierliche Rund des kleinen Brunnens rückt in den Blick, der mit seinem leicht sprudelnden Wasser die Wärme des Nachmittags mit ein wenig Kühle untermalt. Weitere Stufen führen hinauf auf die kleine Terrasse der Residenz. Mit ihren Tischen und Stühlen. Sie laden ein, sich zu setzen. Sich im Blick auf die Alhambra zu verlieren. Die Zeit zu vergessen. Das Innen der eigenen Person dem Außen der hier erschauten Welt zu öffnen. Und all dies zu genießen. Ein Café con Leche vielleicht? Mineralwasser? Die Schatten gehen ihren täglich Gang. Verändern Licht und Farben. Das Dunkel der Bäume. Das Leuchten der Blütentrauben auf der Terrasse. Die Präsens des Felsens der Alhambra und des Steins der Paläste und Festungstürme, der Alcazaba. Langsam verliert der Himmel sein tiefes Blau. Durchwirkt es mit dem leichten Weiß der Schleierwolken. Vielleicht ein Glas Wein nun? Abendessen auf der Terrasse. Ein Privileg für die Residenzgäste. Tag für Tag. Für andere Besucherinnen auch. Gegen Entgelt. Alles ist irgendwie anders als unten in der Stadt. Ruhe ist schon lange eingekehrt hier im Carmen. Überformt die Splitter des Lärms, die den Hügel des Albaycín immer wieder hinaufklimmen. Sie machen darauf aufmerksam, dass der Carmen de la Victoria keine Fantasie ist, keine Imagination außerhalb dieser Welt. Die Beleuchtung der Alhambra wird angestellt. Verleiht ihr einen nochmals veränderten rötlichen Glanz. Der Himmel ist ein dunkler Bogen nun, der das Strahlen seiner Sterne rahmt. Aus dem Glas ist eine Flasche roten Weines geworden. Alles doch nur Imagination?


Jürgen van Buer, 2018



Carmen Blanco de la Fundación Rodríguez Acosta

Auf der Colina del Mauror, ganz in der Nähe der Torres Bermejas, dem Festungsvorwerk der Alcazaba der Alhambra, erhebt sich der Carmen der Stiftung Rodriguez-Acosta. Genannt wird er auch „Carmen Blanco“, das Weiße Landhaus. Getrennt ist er von den Festungsmauern der Alhambra nur durch eine kleine Senke, durch die Cuesta de Gomérez durch die Puerta de las Granadas hinunter in die Stadt führt.

Der Carmen dominiert die Colina del Mauror, die sich über dem Realejo-San Matías erhebt, einem alten Stadtteil Granadas. So weithin das imposante Bauwerk aus dem Jahr 1914 auch sichtbar ist, so vergessen, ja übersehen ist es. Die Besucherströme folgen den Wegen hinauf zur Alhambra oder auch hinab zurück in die Stadt hinunter zur Plaza Nueva. Auf jeden Fall jedoch vorbei an dem so nahe liegenden Carmen Blanco. Denn nur ein paar Schritte wären es über die Calle de Antequerruela Alta vorbei an den hoch aufragenden Torres Bermejas hinein in den Callejón Niño del Royo hin zum Carmen Blanco. Die Geschichte dieses Bezirkes im Realejo-San Matìas reicht weit zurück in das 13. Jahrhundert. Er diente als Ort für Verließe, wie man dies heute noch im Carmen de los Catalanes sehen kann. So ist es nicht überraschend, dass das ganze Gebiet von Tunneln durchzogen ist. Einige sollen sogar bis hinein in die Alhambra reichen.
Der Carmen Blanco ist ein ganz und gar ungewöhnliches Bauwerk. Erbaut 1914 von José María Rodríguez-Acosta, ist er ein Ensemble bewusst vereinter ganz unterschiedlicher Bauelemente, so von Elementen des Art Déco, solchen aus der Zeit der Nasriden, aber auch des Barocks; grandios die Gärten mit ihren Elementen griechischer Tempel. Der Carmen ist eine Einladung zu einer Reise entlang von in Stein gehauenen geträumten Bildern.
Der Erbauer (1878-1941) stammt aus einer Bankiersfamilie, wandte sich aber schon früh der Malerei zu, dabei vor allem dem Symbolismus und dann dem Modernismus. So ist der Carmen die Inkarnation seiner Seele, seines Rückzugs auch aus einer Zeit, in dem mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges Spanien als Phase seines so genannten Papierkrieges seine Neutralität erklärte. Gleichwohl war das Land gespalten zwischen den Anhängern der Deutschen und solchen der Alliierten. Es war die Zeit, in der die über den großen Krieg aufblühende Wirtschaft ihr Ende fand. Es war eine Zeit des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Übergangs, die letztlich im Spanischen Bürgerkrieg 1936 ihr gewaltsames Ende fand und Spanien bis zum Tode von Franco 1975 in die Isolation gegenüber Europa führte.

Gebaut ist der Carmen Bianco wie eine weiße Insel, gegen die reale Welt abgeschirmt durch Mauern und hohe Terrassen. Er ist eine Idealisierung, die symbolische Überhöhung einer Welt, die die es nur in den Fantasien gab, gemalt vielleicht auf Leinwand, oder gekleidet auch in Musik. Eine im andalusischen Sonnenlicht gleißende Insel der Schönheit, der Ausgewogenheiten. Auch der heimlich ausgelebten Liebe des Malers José María Rodíiguez-Acosta mit einer verheirateten Frau. Ebenso ist der Carmen ist eine Insel der Mächtigkeiten des hoch aufstrebenden Hauptgebäudes. Des Hauptgebäudes, das eigentlich kein Landhaus, auch kein Stadthaus ist, sondern ein Palast. Die terrassierten Gärten laden zum Verweilen ein. Sie dulden keine Menschenströme. Orte stillen Träumens wollen sie sein und sollen sie auch sie bleiben. Orte entzeitlichten Verweilens entlang der Säulen, Statuen und der kleinen überall sichtbaren Symboliken.
Genau dies können diejenigen ergründen, erfühlen, erschauen, die sich auf den Weg in den Callejón Niño del Royo machen. Denn der Carmen Bianco ist einer der vergessenen Orte Granadas, ein heimlicher beinah. Geheimnisvoll machen ihn die inneren Bilder, die in den Besucherinnen aufsteigen und sie ins Staunen versetzen. Der beinah vergessene Carmen, so als beschützten ihn die Torres Bermejas vor der Gefahr heranstürmender en-passant-Besucherinnen mit ihren Selfie-Geschützen.
Die Stiftung Rodríguez-Acosta öffnet dieses so seltsame und beunruhigend schöne Bauwerk seinen dieser Welt enthobenen Gärten denjenigen, die kommen mögen und Zeit mitbringen. Zeit, um gelassen zu schauen und dabei auch den eigenen Bildern und Assoziationen zu folgen.


Jürgen van Buer, 2019

Càrmenes de Granada