Durchschreiten eines Zeittors –
der jüdische Friedhof am Zusammenfluss der Theiß und der Bodrog
Auf dem Gelände der ehemaligen Festung am Zusammenfluss dieser beiden für den Warenhandel so wichtigen Flüsse im östlichen Ungarn entstand schon früh eine kleine Burg, dann im 17. Jahrhundert eine Festung. Nachdem die Türkengefahr gebannt war, verlor die Festung ihre Funktion, sie verfiel zunehmend. Dann wurde der jüdischen Gemeinde von Tokaj dieses Gelände als Standort für ihren Friedhof übergeben. Seit ca. 1870 wird dieser nicht mehr genutzt. Die Grabstelen sind zu großen Teilen noch erhalten, aber über die Jahre verfallen. Doch ihre Inschriften erzählen nach wie vor bewegende Geschichten. Der Besuch dieses Friedhofs gestaltet sich aufwändig, müssen man oder frau doch in einem kleinen Boot übergesetzt werden. Soweit die eher nüchterne Kurzbeschreibung.
Wenn ich meine Gefühle, meine Empfindungen bei meinem Besuch zu beschreiben versuche, geraten die obigen Daten in den Hintergrund:
Im Juni 2018 organisierten ungarische Freunde aus der Besseneyi-Hochschule in Nyíregyháza, die ich seit 1993 im Rahmen des universitären ERASMUS-Programms regelmäßig besuche, eine Bootsfahrt entlang der Bodrog an ihrem Zusammenfluss mit der Theiss. Es war, als glitten wir langsam hinein in eine längst vergangene Zeit. Entlang dem Ufern reihten sich verlassene Schiffe – Lastkähne, Ausflugschiffe, kleinere Boote. Sie waren eingehüllt von dem Grün der Bäume, die sie wie ein Schutz gegen die Zeit mit ihren hängenden Zweigen überdeckten. Rost. Blätternde Farben. Leere Fenster. Stille. Als sei die verflossene Zeit eine lautlose Zeit. Wenn der Motor unseres Bootes ausgestellt wurde. Nur die Laute der Vögel tönten. Sie verwandelten die Szenerie in ein beinah magisches Theater. So, als sei diese Bühne geschaffen worden für den Stillstand der Zeit.
Die Überfahrt zum jüdischen Friedhof begann schwankend. Das kleine Boot suchte seine stabile Lage und fand sie doch nur für je einen Augenblick. Langsam näherte es sich den großen Bäumen auf der anderen Seite des Ufers. Und dann kamen wir an in einer anderen Welt. Durchschritten ein unsichtbares und doch intensiv gefühltes Zeittor. Der Blick zurück auf das andere Ufer, wo die Jetztzeit ihren Platz hatte, erschien uns unendlich weit entfernt. Es war die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die dort Fluss verband, zusammenführte und doch auch trennte.
Empfangen wurden wird von dem einzigen Bewohner dieses kleinen Terrains. Einem ehemaligen Schiffskapitän, der die meiste Zeit seines Lebens auf der Bodrog Waren hin- und hergeschifft hatte. Ein freundlicher Mann. Tätowiert. Aus seinem anderen Leben. Er erzählte, wenn er Kontakt mit den Menschen auf der anderen Seite der Zeit haben wolle, führe er für ein paar Stunden rüber. So als sei alles genau umgekehrt zu dem, was ich fühlte – sein Zeittor war das in die Jetztzeit. Ein Aussteiger? Der Blick auf die Terrasse seines kleine Hauses zeigte, dass er gut durchorganisiert war. Die Wäsche hing wohlgeordnet über der Leine. Die Teller und Tassen waren sorgfältig abgewaschen und standen in Reih und Glied, als erwarte er Gäste. Aber Gäste hatte er, wollte er auch nicht. Die wenigen Besucher störten ihn eher in seiner Ruhe. Er erzählte uns, wie er den jüdischen Friedhof pflege. Vorsichtig. Mit kleinsten Eingriffen. Um zu verhindern, dass Bäume und Gestrüpp die Stelen zum Einsturz brächten. Er hatte seine Lebensaufgabe gefunden.
Der Gang über den Friedhof war wie eine Wanderung. Schritt für Schritt. Entlang der Stelen. Es war Verweilen, Lesen. Und Fotografieren. Die Zeit öffnete sich mit einem ganz eigenen besonderen Terrain, als versuche sie stillzustehen, sich dem unerbittlichen Rennen entlang der Tage zu entziehen. In diesem Terrain war das Klicken der Kamera eigentlich ein Störgeräusch.
Der Weg zurück in die Jetztzeit war das erneute Durchschreiten dieses Zeittores. Mit der Fahrt über den Fluss war es eher das schwankende Durchqueren eines Zeitkorridors.
Dieser Friedhof wurde nicht zerstört. Er wurde offengelassen. Er geht den unausweichlichen Weg des langsamen Verfalls. Bäume, Sträucher, Gras haben sich ihr Feld zurückerobert.
Auch wenn der Holocaust zeitlich noch weit entfernt war, so bleibt er doch als unausweichlicher Hintergrund. Und es bleibt das erneute Erstarken antisemitischer Einstellungen und deren Wirken auf das Alltagshandeln. So als sei die lange europäische Geschichte der Judenprogrome, beginnend im Jahr 1011 in Córdoba, fortgesetzt in Granada im Jahr 1066, mit der unendlichen Reihung der Ermordung von Juden bis hin zum Genozid des 20ten Jahrhunderts etwas Unausweichliches gewesen. So als sei die Bedrohung jüdischer Mitbürgerinnen und ‚Mitbürger etwas Unausweichliches. Doch unausweichlich ist Geschichte nie. Sie ist Verpflichtung.
Jürgen van Buer